Was macht ein gutes Webvideo aus?
Diese Frage erscheint einem so alt, obwohl Webfilme als Phänomen gerade mal ein paar Jahre alt sind. Um es vorweg zu nehmen: die Zutaten für gute Web Filme sind wie ein Salatsaucenrezept von Jamie Oliver. Es kommt nicht darauf an, die immer gleichen Zutaten zu nehmen, sondern darauf zu achten, dass von einer bestimmten Zutatenkategorie immer etwas dabei ist. Es soll Öl oder Fett als Geschmacksträger, etwas Saures wie Essig oder Senf, etwas Salziges und etwas Süßes drin sein. Ob ich Honig, Zucker oder Aprikosenmarmelade zugebe, ist erstmal egal: Hauptsache, die Zutatenkategorie Süßes wird bedient und es ist nicht zu viel oder zu wenig. Der finale Geschmack hängt ohnehin von meiner Zielgruppe ab.
Was ist also das Rezept für einen guten Webfilm? Die Zutaten sind Vertrauen, Identifikation, Qualität und Präsentation. Diese vier Elemente tragen dazu bei, ob ein Film von dem Zuschauer als authentisch wahrgenommen wird oder nicht. Aber was ist denn eigentlich Authentizität? Vereinfacht bedeutet Authentizität Echtheit oder Originaltreue. Gerade für mich als Ethnologen ist dieses Wort mehr als verbraucht, denn Authentizität ist für Kulturwissenschaftler die absolute Basis des wissenschaftlichen Arbeitens. Wenn die Kamera selbst kein Teil einer Szenerie ist, kann es streng genommen keinen authentischen Film geben, da das Erscheinen eines Filmers oder Filmteams die Szenerie beeinflusst. Das Inszenierte ist also das Gegenstück zu dem Echten, dem Wahren. Die Wechselwirkung zwischen Kamera und Gefilmten ist beispielsweise immer dann deutlich spürbar, wenn der Interviewpartner sich plötzlich anders verhält als im Alltag. Deswegen spricht man von authentischen Personen, wenn man das Gefühl hat, dass sie sich vor der Kamera genauso verhalten als wäre diese gar nicht da. Einen Interviewpartner jedoch wieder in eine für den Film geeignete Rolle zurückzuführen kostet unglaublich viel Kraft und bedarf einiges an Einfühlungsvermögen.
Wer wissen möchte, wie man Filmen einen authentischen Anstrich gibt, sollte einen Blick in die Vergangenheit werfen.
Die Ursprünge des authentischen Films
Gehen wir zurück in die Zeit der ersten Filme mit kommerziellem Interesse. Die 35mm Kameras waren Monster und mussten auf großen Fahrzeugen, Anhängern oder Kränen installiert werden. Das Kino dieser Tage erinnerte eher an aufwendige Theaterstücke, die aus Verbreitungsgründen auf Zelluloid gebannt wurden. Die Kosten und das Gefährdungsrisiko des leicht entzündlichen Materials waren so enorm, dass eine private Nutzung undenkbar war.
Das änderte sich als die ersten Handkameras entwickelt wurden. Die ersten Filmer, die die Grenzen des Mediums neu ausschöpfen wollten, waren die französischen Filmemacher der Novelle Vague. Die bekanntesten Vertreter sind Jean-Luc Godard, Eric Rohmer und Francois Truffaut.
Deren Mut im Umgang mit der Handkamera wurde von Dokumentarfilmern und Ethnologen gleichzeitig aufgegriffen. Das Filmen von Alltagsszenen wurde durch günstigeres Material und tragbarer Tonaufzeichnung einfacher. In dieser Zeit entstanden für die Ethnologie bahnbrechende Werke, die sich deutlich von den vorangegangenen Werken unterscheiden. Besonders der französische Ethnologe und Filmemacher Jean Rouch hat 1955 mit dem Werk „Les maîtres fous -The mad masters“ Geschichte geschrieben. Er filmte in Ghana eine Hauka Gruppe, die sich in andere Bewusstseinszustände versetzte. In Trance haben diese Hauka komplett andere Rollen der Kolonialgesellschaft eingenommen, in Zungen geredet, einen Hund geschlachtet und roh gegessen. In Punkto Authentizität ist der gutgemachte ethnologische Film nicht zu übertreffen. Weitere große ethnologische Filmemacher dieser Schule sind John Marshall und David McDougall.
Les metre foux – Ein Meisterwerk des ethnologischen Films
Die Zutaten für gute Web Filme
Was haben nun ein Web Video und der ethnografische Filmmacher gemein? Denn wie eingangs gesagt wird Authentizität durch Vertrauen, Identifikation, Qualität und Präsentation erzeugt.
Vertrauen
Die Medienkompetenz der Zuschauer, gerade im Web, ist deutlich höher als die des Durchschnitts. Dank Smartphones und Digitalkameras war es noch nie so einfach und selbstverständlich, eigene Videos zu drehen und diese Filme der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Der spielerische Zugang der „Internet-Generation“ zu Foto und Video sowie der hohe Medienkonsum ergeben eine sehr kritische Masse. Damit einem Menschen hier Vertrauen geschenkt wird, müssen Interviewpartner bestimmte Kriterien erfüllen, um als vertrauenswürdig zu gelten.
Die Logik der etablierten Medien ist den Nutzern bekannt. Irgendjemand muss einen Film finanzieren, und in den seltensten Fällen stecken altruistische Beweggründe dahinter. Bei kommerziellen Interessen, muss der Anbieter eines Videos erstmal beweisen, dass seine Informationen die Zeit und das Vertrauen der Zuschauer wert sind, um nicht als Werbung wahrgenommen zu werden. Denn im Web gilt, der bessere Film ist nur einen Klick entfernt und selten hat ein Film länger als 20 Sekunden, um zu überzeugen.
Wie in der wahren Welt kann Vertrauen durch Transparenz, Offenheit, Dialog, Nähe oder schlicht einen weißen Kittel geschaffen werden, der einen als „Wissenschaftler“ oder als „Arzt“ ausweist. Es gibt zahllose Rollen, die jemand im Webfilm einnehmen kann. Wer es als klassischer YouTuber/Blogger geschafft hat und von einer großen Firma als Influenzer angeheuert wird, der riskiert eben dieses gewonnene Vertrauen. Denn vorher galt der Informationsgehalt als persönlich und richtig. Nun kann der Zuschauer feststellen, der YouTuber/Blogger meines Herzens ist käuflich.
Eine besondere Rolle nimmt der Experte ein. Dieser hat per se eine belastbare, objektive Meinung. Ihm kann man vertrauen, solange niemand ihn widerlegt. Doch eine „Bauchbinde“ mit eingespieltem Text macht noch keinen Experten. Seine Erfahrung sollte belegt werden. Die größte Hürde des Experten ist, verstanden zu werden. Gerade bei einer so vielschichtigen Zuschauergruppe wie im Web ist das gar nicht so einfach. Ein belehrendes Auftreten sollte vermieden werden, junge Menschen wollen weder einen Lehrer noch einen Elternersatz. Wer mit Begeisterung und Humor an die Sache herangeht, hat deutlich bessere Chancen.
Die weitere wichtige Gruppe sind die „Opfer“. Nein, nicht was Sie denken. Ich meine Leute die auf der Straße oder auf Events spontan um eine Meinung gebeten werden. Da das Inszenierte als Gegenkonzept zur Authentizität gilt, sind sie gänzlich ohne Eigeninteressen und somit vertrauenswürdig.
Identifikation
Warum interessieren sich Menschen für Geschichten? Warum sind Storytelling, filmische Wendungen, Probleme und deren Lösung so wichtig, um die Aufmerksamkeit eines Zuschauers zu binden? Die Antwort ist nicht so ganz einfach. Vermutlich hat es mit den Geschichten zu tun, die man sich in der Steinzeit am Lagerfeuer erzählt hat (Storytelling): Ein erfahrender Jäger (Identifikationsfigur) der alleine einem Säbelzahltiger begegnet (Problem) und durch eine clevere Aktion das Tier erlegen konnte (Lösung). Mit jeder im Detail beschriebenen Wendung wird die Geschichte spannender. Da der Erzähler überlebt hat, ist die Information deutlich wertvoller. Wenn man nun selbst in eine solche Situation kommen könnte, sind solche Geschichten ein wertvoller Schatz.
Bei dem Phänomen Storytelling könnte sich um einen Affekt zur Übergabe von kulturellem Wissen an die nachfolgenden Generationen handeln. Unser Steinzeitgehirn wird bei für unsere Lebenssituation wertvollen Geschichten getriggert und sendet sein Interesse an unser Bewusstsein. Wie vergleichbar ist der Protagonist mit mir? Könnte mich das gleiche Schicksal treffen? Deswegen lernen Kinder möglicherweise lieber von etwas älteren Kindern als von ihren Eltern und Nachwuchsakademiker hängen an den Lippen ihrer Professoren.
Nun wissen wir, was eine gute Geschichte und ein guter Geschichtenerzähler braucht, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu bekommen und zu behalten. Eine identifikationsstiftende Rolle und eine Geschichte die in das Leben der Zuschauer passt. Und hier spielt die Themenwahl und die Qualität der Informationen eine große Rolle.
Welche Themen interessieren die Menschen? Der einfachste Weg ist sich an den basalen Bedürfnissen der Menschen zu orientieren: Überleben (Gute Bezahlung) & Sexualität (Du bist attraktiv durch dein tolles Studium, schöne und gutaussehende Kommilitonen), Anerkennung (toller Job, toller Titel, finde heraus wie toll Du bist) & Sicherheit (zuverlässige Perspektive am Arbeitsmarkt). Um das zu belegen finden sich hier die am häufigsten geklickten Titel von Facebookartikeln:
Qualität
Sind wir mal ehrlich, bei vielen der meistgeklickten Filmen im Web fragen wir uns: „Was zur Hölle ist das?“ Die gestalterische Qualität vieler YouTube-Filme ist, um es freundlich zu sagen, erbärmlich. Dennoch funktionieren sie. Fehler zu zeigen ist auch eine Art der Inszenierung. Viele der YouTuber könnten sich spielend leicht die Fähigkeiten aneignen, um technisch bessere Filme hinzubekommen. Das tun sie aber nicht, denn die Fehler signalisieren: „Ich bin kein Profi, ich gehöre zu Euch!“ Wer Fehler vermeidet, möchte sich in dem Moment unangreifbar machen. Ein perfektes Produkt lässt einen vor dem Chef besser dastehen. Aber erreiche ich damit meine Ziele? Blicke in den Alltag, Out Takes, Interaktion statt Ansprache, Blicke hinter die Kulissen – genau das schafft Intimität, Intimität führt zu Identifikation und Identifikation zu nachhaltiger Bindung. Fehler zu machen ist die menschlichste aller Eigenschaften. Man wird zum Menschen und ist keine Kunstfigur. Haben Sie Mut! Denn sie erreichen damit eine andere Form der Qualität, die die ethnografischen Filmemacher anstrebten, nämlich mit der Handkamera und Großaufnahmen näher am Menschen zu sein, Alltag zu zeigen und exklusive Einblicke in das geheime Leben der Menschen zu schaffen.
Das Gegenkonzept ist das Cleane und das Strahlende. Je nach Zielgruppe die bessere Wahl. Stanley Kubrick und Alfred Hitchcock gehörten bei der Nutzung der Filmischen Mittel zu dieser Alten Schule. Beide haben durch akribische Arbeit eine möglichst detailgenaue Illusion eine Welt geschaffen. Besonders Kubrick soll mit damit die Requisiteure, Bühnenbildner und Schauspieler nahezu in den Wahnsinn getrieben haben. Diese kreierten Welten haben eine andere Art der Authentizität geschaffen. Beispielsweise hat Kubrick in dem Film „2001: Odyssee im Weltraum“ 1968eine detailgetreue Darstellung der Erde aus dem Weltraum gezeigt, obwohl noch kein einziges Bild der Erde aus dem Weltraum existierte. Seitdem ist die visuelle Darstellungskraft des Mediums gestiegen, hat sich aber durch die alltägliche Bilderflut im Vergleich zu damals deutlich verbraucht. Geschichten als Identifikationsstifter werden immer wichtiger, und ohne ein gutes Storytelling gelingt es kaum noch, Zuschauer dauerhaft zu binden. Gute Filmaufnahmen und eine zeitgemäße Aufbereitung bleiben wichtig, reichen aber bei weitem nicht mehr aus.
Präsentation
Es gibt keinen einfacheren Weg, seine Zuschauer zu erreichen, als ihre Emotionen anzusprechen. Wer sich wohl fühlt, der lernt besser und ist aufmerksamer. Die Präsentation beginnt schon bei der Betitelung und der Auswahl des Vorschaubildes. Gesichter werden in visuellen Selektionsprozessen bevorzugt. Leider ist die Auswahl des Vorschaubildes bei einigen Kanälen nicht so einfach. Vimeo hat da noch die weitreichendsten Möglichkeiten. Orientiert man sich bei der Betitelung an den Grundbedürfnissen des Menschen, bekommt man sicher ein gutes Ergebnis. Das Wesentliche sollte am Anfang des Satzes stehen, da lange Titel nach hinten vom Leser ausgeblendet werden.
Um einen Film attraktiv zu machen, spreche ich gerne von Sexyness. Das ist jetzt nicht auf die Körperlichkeit zu reduzieren, es geht um Anziehungskraft. Testen Sie das mal bei sich selbst! Als positiv wahrgenommene Ausdrücke der Emotionen sind Komik, Freude und Liebe. Weniger positiv werden Angst, Ärger, Eifersucht und Furcht wahrgenommen. Ironie und Mitleid haben Anteile auf beiden Seiten. Die Wissenschaftskabarettisten Vince Ebert und Eckart von Hirschhausen zeigen, wie man sehr erfolgreich wissenschaftliche Erkenntnisse mit viel Humor einer breiten Öffentlichkeit zugängig macht. Wer sich fragt wie Ängste angesprochen werden, der muss nur 20 Minuten NBC oder am besten gleich Michael Moores „Bowling for Columbine“ schauen. Eine bittere Erkenntnis bleibt aber: Nie wird ein Wissenschaftsblogger erfolgreicher sein als ein Katzenvideo.
Und hier sind wir bei dem wichtigsten Punkt: der Zielgruppe. Die erste Frage die ich meinen Kunden stelle ist immer, an wen sich der Film richten soll. Nur dann kann ich beurteilen, welches der vielen Rezepte zu dem jeweiligen Segment passt und welche Zutaten die besten sind. Bei der Bestimmung der Zielgruppe lohnt es sich einen Blick auf die Sinus Millieus zu werfen.
Je nach Milieu gibt es eine andere Motivation, einen Film anzuschauen und unterschiedliche Wege, diese anzusprechen. Ein maßgeschneiderter Film für meine Zielgruppe ist sicher erfolgreicher als ein nach Standardrezepten angefertigter Film.
Fazit
Wer eine nachhaltige Kommunikation über das Medium Film anstrebt, der braucht eine Vertrauensbasis, Charaktere und Inhalte, die ansprechen und mit denen die Zuschauer sich identifizieren können, sowie eine dem Filmkonzept und Budget angemessen Qualitätsstufe. Wem diese Kombination gelungen ist, der präsentiert seiner Zielgruppe Filme mit einer emotionalen Ansprache.
Handlungsempfehlungen
Sprechen Sie den Zuschauer direkt in/durch die Kamera an, integrieren sie im Interview das Vorgespräch bzw. die Frage, fangen Sie das wahre Leben ein, inszenieren Sie nicht oder so wenig wie möglich. Drehen Sie an Originalschauplätzen. Filmen Sie die Leute in Situ oder bei der Arbeit. Nahaufnahmen erhöhen die Intimität. Lassen Sie die Menschen im Film auch mal scheitern – natürlich mit dem Happy End und vergessen Sie nicht das Lachen.